Suizid. Eine Studie zur Situation in Österreich 1850–2000

Projektmitarbeiter: Mag. Dr. Hannes Leidinger

Projektleitung: ao.Univ.Prof. Dr. Karl Vocelka

Jubiläumsfondsprojekt Nr. 11899 der Österreichischen Nationalbank

Laufzeit: April 2007 bis März 2009

Im Rahmen des Jubiläumsfondsprojekts wurde zunächst eine quantitative Analyse durchgeführt. Anhand von Archivbeständen, Presseberichten, (statistischen) Fachpublikationen und Hochschulschriften können nun für das gesamte Bundesgebiet und für die einzelnen Kron- bzw. Bundesländer Aussagen über die Entwicklung der Selbstmordziffern und -raten zwischen 1850 und 2000 getroffen werden.

Für epidemiologische und idealtypische Studien fanden sich neben den im Zuge der Recherchen ermittelten Suizidhandlungen weitere Fälle in der aktuellen Literatur und in gedruckten Quellen. Unter Einschluss von zusätzlichen 380 in der Fachliteratur angeführten Selbsttötungen und Suizidversuchen stehen für die entsprechenden Analysen und dabei schwerpunktmäßig für die 1860er und 1870er Jahre, die Zwischenkriegszeit einschließlich der NS-Herrschaft 1938/39 und die Frühphase der Zweiten Republik rund 3200 Einzelfälle, darunter etwa 470 „Selbstmordversuche“, zur Verfügung.

Der interpretativ-analytische Teil des Projektes setzte sich dann zunächst mit einer „Quantifizierung des Diskurses“ auseinander. Demgemäß wurde die Literaturproduktion anhand von Fachmagazinen, Presseartikeln und Bibliographien nach Erscheindungsdatum und Themenwahl zahlenmäßig erfasst.

In weiterer Folge ging es um die „Diskursformationen“ im Einzelnen bzw. im Detail. Neben Begriffsdefinitionen rückten dabei speziell wissenschaftliche Suiziddebatten und künstlerische Reflexionen, in der Literatur und im Film etwa, in den Mittelpunkt.

Ein eigener Arbeitsbereich war dem „Werther-Effekt“, den Nachahmungstaten und der Wechselwirkung zwischen Medienberichten und „Selbstmordhandlungen“ gewidmet, bevor mit epochen- und gruppenspezifischen Analysen über das Verhältnis zwischen Suizid bzw. Suizidalität einerseits und Politik, Ideologie, Sozialstruktur und Ökonomie andererseits begonnen wurde. Diese Forschungen beziehen sich auf Geschlecht und Alter, auf bestimmte Berufsgruppen, die Nationalitätenkonflikte im Habsburgerreich, die innenpolitische Polarisierung in der Zwischenkriegszeit, den schwierigen Untersuchungsbereich der NSHerrschaft, insbesondere in Bezug auf repressierte Bevölkerungsgruppen, sowie die Erfassung der Suizidproblematik als „Unterschichtenphänomen“ und dessen Kontextualisierung in lokalen Lebenswelten bzw. „Gewaltkulturen“ des 19. und 20. Jahrhunderts.

Rund 230 Suizide oder Suizidversuche eigneten sich für idealtypische Untersuchungen, wobei zahlreiche Abschiedsbriefe bzw. Selbstzeugnisse der Suizidenten entdeckt werden konnten. Neben repräsentativen Beispielen aus verschiedenen Gesellschaftsgruppen fanden auch Intellektuellenbiographien Beachtung, aber auch die gesellschaftlichen Reaktionen auf den Tod von Kronprinz Rudolf, die sich als Forschungsfeld zu den Auseinandersetzungen zwischen (deutsch-)liberalen und (christlich-)konservativen Strömungen vor dem Hintergrund eines „österreichischen Kulturkampfes“ erwiesen. Für die jüngere Vergangenheit boten sich darüber hinaus Zeitungsberichte aus der Pressedokumentation des Archivs der Bundespolizeidirektion Wien an.

Zudem empfahl es sich, Entwicklungen in unterschiedlichen (europäischen) Staaten und einzelnen Regionen des heutigen österreichischen Bundesgebietes bzw. in den verschiedenen Kronländern der Donaumonarchie mit einander zu vergleichen.

Unmittelbare Folge des Projektes ist augenblicklich die Integration des Suizidthemas in den Lehrbetrieb der Universität Wien sowie die Beteiligung des Projektmitarbeiters an einer Ausstellung des „Wien Museums“ über die österreichische Bundeshauptstadt zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. In diesem Zusammenhang wird der „Selbstmordproblematik“ ein eigenes Kapitel gewidmet sein.